TERRITORIES AND TRACES
Was ist ein Zeitraum? Wann wird er spürbar und wie lässt er sich künstlerisch visualisieren? Der Anlass, sich genau damit auseinanderzusetzen, ergab sich für den Künstler buchstäblich vor der eigenen Wohnungstür – in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Das Haus war 1893 in München erbaut worden, hatte Kriege und Renovierungen weitgehend unverändert überdauert. Auch die Stufen des Treppenhauses, die über 130 Jahre hinweg zu den Wohnungen unterschiedlichster Menschen und deren Leben führten, waren nie ausgetauscht worden. Bis zu jenem Werktag, an dem Geräusche aus dem Treppenhaus die Neugier des Künstlers weckten und er von dort arbeitenden Handwerkern eher beiläufig erfuhr, dass die Treppenstufen entfernt werden und durch neue ersetzt werden sollten – jene alten Holzstufen, die die Spuren von Generationen von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Besucherinnen und Besuchern des Hauses trugen, zu denen auch die Familie von Ömer Faruk Kaplan gehörte.
Die Stufen fühlten sich an wie ein Teil der eigenen Geschichte, allein ihre physische Präsenz ließ sie wie stille Begleiter des Hauses, wie abstrakte Speicher persönlicher und kollektiver Erinnerungen wirken. Auf die Frage, was mit den Stufen geschehe, antworteten die Handwerker, dass sie sie entsorgen würden. Ob er sie haben könne, fragte der Künstler. Und auf die verwunderte Rückfrage der verschwitzten Treppenbauer, wie viele er denn haben möchte, antwortete dieser mit einem Grinsen im Gesicht: "Alle!"
Für seine Arbeit "Territories and Traces" wählte Kaplan 36 Tritte dieser Treppe aus. Sie bestehen aus Eichen- und Fichtenholz und ihre Oberflächen sind je nach Etage unterschiedlich abgenutzt. Indem er sie senkrecht und mit gleichem Abstand nebeneinander an der Wand installierte, verfremdete er die gewohnte Perspektive auf die Stufen. Beim Abschreiten entstand ein neuer, gleichsam musikalischer Rhythmus von dicht zu licht, ein anderer Blick auf die Stufen und ihre Geschichte, die sich durch jahrzehntelange Benutzung in das Holz eingeschrieben hatte. Jetzt waren auch all die Kerben und Narben zu sehen, der unterschiedliche Abrieb der Oberflächen, die Veränderungen in der Farbe. Aus ehemals funktionalen und kaum beachteten Teilen wurde eine Skulptur – und die Bewohner und Besucher des Hauses, die durch ihre Schritte über Jahrzehnte den Objekten ihre finale Form gegeben hatten, wurden nachträglich zu Bildhauerinnen und Bildhauern dieses Werks.
Text: Prof. Dr. Bernhart Schwenk
______________________________________________________________________________________English Version
What is a period of time? When does it become tangible and how can it be visualized artistically? For the artist, the occasion to address this very question arose literally on his own doorstep - in the house where he grew up, where he spent his childhood and youth. The house had been built in Munich in 1893 and had survived wars and renovations largely unchanged. Even the steps of the staircase, which for 130 years led to the apartments of a wide variety of people and their lives, had never been replaced. Until that working day, when noises from the stairwell aroused the artist's curiosity and he learned rather casually from workmen working there that the steps were to be removed and replaced with new ones - those old wooden steps that bore the marks of generations of residents and visitors to the house, including Ömer Faruk Kaplan's family.
The steps felt like a part of their own history; their physical presence alone made them seem like silent companions of the house, like abstract repositories of personal and collective memories. When asked what would happen to the steps, the craftsmen replied that they would dispose of them. The artist asked if he could have them. And when the sweaty stair builders asked in astonishment how many he wanted, he replied with a grin on his face: "All of them!"
Kaplan selected 36 steps from this staircase for his work "Territories and Traces". They are made of oak and spruce wood and their surfaces are worn differently depending on the floor. By installing them vertically and at the same distance from each other on the wall, he alienated the familiar perspective of the steps. Walking down the steps, a new, almost musical rhythm emerged from dense to light, a different view of the steps and their history, which had been inscribed into the wood through decades of use. Now all the nicks and scars were visible, the different abrasion of the surfaces, the changes in color. Formerly functional and barely noticed parts became a sculpture - and the residents and visitors of the house, who had given the objects their final form through their steps over decades, subsequently became the sculptors of this work.
Text: Prof. Dr. Bernhart Schwenk